Nylontraum aus Amerika
Grossmutter verbrachte nach dem Tod meines Grossvaters die Wintermonate
jeweils bei ihrem Cousin in Florida. Onkel Walter, wie besagter
Cousin von uns allen genannt wurde, war der Sohn einer Auswandererfamilie,
die sich in Florida eine Farm und eine neue, gesicherte
Zukunft aufgebaut hatte. Jedes Jahr im Frühling kehrte unser Grosi
wieder nach Hause zurück. Sie wusste immer viel Abenteuerliches
über das ferne Amerika zu erzählen. Über die Essgewohnheiten, dass
es in jedem Zimmer – sogar in der Küche – einen Fernseher gab, über
Schlangen im Garten und Weihnachten ohne Schnee am Strand. In
ihrem Gepäck hatte sie Muscheln, in denen wir das Meer rauschen
hörten.
Einmal enthielt der grosse Koffer zu meiner Überraschung das Bezauberndste,
was ich als Mädchen je gesehen hatte: Ich bekam ein
Florida-Röckli geschenkt! Ein Kleidchen, wie es die Prinzessinnen in
den Disneyfilmen tragen. Aus Nylon, gelb, glänzend und mit Spitzen
verziert. Unbedingt wollte ich es am Jugendfest tragen. Doch es war
sehr heiss und ich habe nie mehr so geschwitzt in einem Kleid wie
an diesem Julitag. Wie eine Prinzessin auszusehen hat offenbar seine
Tücken.
Einige Jahre später lag in Grosis Koffer ein langes, elegantes Nachtkleid.
Mir war sofort klar, dass dieser hellblaue, seidig glänzende
Traum aus Nylon wohl nur zum Anschauen geeignet war.